Im 12. Jahrhundert, einer Zeit, in der Frauen kaum Zugang zu Bildung hatten und ihre Stimmen selten gehört wurden, erhob sich eine außergewöhnliche Persönlichkeit: Hildegard von Bingen. Als Äbtissin, Komponistin, Naturforscherin und Mystikerin prägte sie nicht nur ihre Zeit, sondern wirkt bis heute nach – ihre Schriften über Heilkunde werden noch immer gelesen, ihre Musik wird aufgeführt, und ihre ganzheitliche Sichtweise auf Gesundheit erlebt eine bemerkenswerte Renaissance.
Eine ungewöhnliche Kindheit
Hildegard wurde 1098 in Bermersheim bei Alzey geboren, als zehntes Kind einer adeligen Familie. Schon früh zeigte sich ihre Besonderheit: Sie berichtete von Visionen, die sie seit ihrer frühesten Kindheit heimsuchten – leuchtende Erscheinungen, die sie als göttliche Offenbarungen verstand. Mit acht Jahren wurde sie als "Oblatin" – als Gabe an die Kirche – in die Obhut der Klausnerin Jutta von Sponheim gegeben, die in einer Klause am Benediktinerkloster Disibodenberg lebte.
Die visionäre Theologin
Erst mit 42 Jahren, nach dem Tod ihrer Mentorin Jutta, wurde Hildegard zur Magistra der kleinen Gemeinschaft gewählt. Und erst in diesem Alter begann sie auf göttlichen Befehl – wie sie es empfand – ihre Visionen niederzuschreiben. Das Ergebnis war das monumentale Werk "Scivias" (Wisse die Wege), in dem sie ihre theologischen Visionen in Text und eindrucksvollen Bildern festhielt.
Bemerkenswert ist, dass Hildegard ihre Werke von Papst Eugen III. absegnen ließ – eine Frau, die theologische Schriften verfasste und dafür päpstliche Anerkennung erhielt, war im Mittelalter eine absolute Ausnahmeerscheinung.
Die Heilkundige
Hildegards Interesse an der Natur und ihrer Heilkraft führte zu zwei außergewöhnlichen naturkundlichen Werken: "Physica" und "Causae et Curae". In diesen Schriften beschrieb sie Hunderte von Pflanzen, Tieren und Mineralien und ihre medizinischen Anwendungen. Dabei verband sie antikes Wissen mit eigenen Beobachtungen und ihrer spirituellen Weltanschauung.
Ihre Heilkunde basierte auf der Vorstellung von der Balance der Körpersäfte und der Harmonie zwischen Mensch und Kosmos. Besonders bekannt sind ihre Empfehlungen zu Dinkel, Gewürzen wie Galgant und Bertram, sowie ihre Betonung einer maßvollen Lebensweise. Die "Hildegard-Medizin" erlebt heute eine bemerkenswerte Wiederentdeckung, auch wenn ihre Rezepturen natürlich kritisch und im Kontext moderner medizinischer Erkenntnisse betrachtet werden müssen.
Die Komponistin
Weniger bekannt, aber ebenso beeindruckend ist Hildegards musikalisches Schaffen. Sie komponierte über 70 liturgische Gesänge, die in ihrer Sammlung "Symphonia armonie celestium revelationum" zusammengefasst sind. Ihre Musik ist außergewöhnlich: Die Melodien sind weit gespannt, ekstatisch und unterscheiden sich deutlich vom gregorianischen Choral ihrer Zeit. Ihre einzige Oper "Ordo Virtutum" gilt als das erste Mysterienspiel der Musikgeschichte.
Die selbstbewusste Mahnerin
Mit etwa 50 Jahren gründete Hildegard gegen den Widerstand der Mönche von Disibodenberg ihr eigenes Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen. Dies zeugt von ihrer Durchsetzungskraft und ihrem Selbstbewusstsein. Sie unternahm mehrere Predigtreisen – auch dies höchst ungewöhnlich für eine Frau ihrer Zeit – und scheute sich nicht, Kritik an kirchlichen Missständen zu üben. Selbst Kaiser Friedrich Barbarossa ermahnte sie brieflich.
Ein bleibendes Vermächtnis
Hildegard von Bingen starb am 17. September 1179 im Alter von 81 Jahren – für damalige Verhältnisse ein biblisches Alter. 2012 wurde sie von Papst Benedikt XVI. heiliggesprochen und zur Kirchenlehrerin erhoben, eine der wenigen Frauen mit diesem Titel.
Was macht Hildegard auch heute noch so faszinierend? Vielleicht ist es ihre ganzheitliche Sichtweise, die Körper, Geist und Seele als Einheit begreift. Vielleicht ist es ihr Mut, als Frau im Mittelalter eine Stimme zu erheben und Gehör zu finden. Oder vielleicht ist es die Verbindung von Spiritualität, Wissenschaft und Kunst in ihrem Werk – eine Synthese, die in unserer spezialisierten Welt selten geworden ist.
Hildegard von Bingen bleibt eine Erinnerung daran, dass außergewöhnliche Menschen zu allen Zeiten die Grenzen ihrer Epoche überwinden können – und dass wahre Weisheit zeitlos ist.
Für alle Interessierten haben wir eine "Hildegard´sche Kräutersymbolreihe" im Mittelalterlichen Stil kreiert um die einzelnen Kräuter, ihre Charakteristiken, Beutungen und ihre Wirkungen nach Hildegard von Bingen darzustellen.